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PKV-Tarife in Appsurdistan

Veröffentlicht am 22.02.2016

Die unglaubliche Geschichte eines perfekten Fakes

 

Offensichtlich gibt es PKV-Tarife, bei denen sich die individuelle Beitragsentwicklung nach dem Vorsorgeverhalten des einzelnen Versicherten richtet. Oder zumindest haben die Privaten Krankenversicherer solche in der Schublade. Das muss man jedenfalls glauben, wenn man die einschlägige Berichterstattung zum Thema Big Data verfolgt. Roland Weber reibt sich verwundert die Augen und geht der Sache nach. 

Andrea Voßhoff  hat es nicht leicht. Als sie am 17. Dezember 2013 zur neuen Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) berufen wurde, hagelte es Kritik. Ein Sprecher der Grünen meinte, „die Personalie komme einer Abschaffung des Amtes gleich“[1], der Linken-Politiker Jan Korte erklärte, mit Voßhoff fahre der Datenschutz "in Richtung Abstellgleis“[2]. Nach knapp einem Jahr im Amt ließ die FAZ die Sprecherin des Chaos Computer Clubs, Constanze Kurz, urteilen: „Die Datenschutzbeauftragte ist ein Desaster“[3].

Eine solche Presse lässt niemand so einfach an sich abprallen. Seither geht die Datenschutzbeauftragte stärker in die Offensive. So am 16. Juli 2015. In einer Pressemitteilung warnte sie vor neuartigen PKV-Tarifen:

„Eine wachsende Zahl privater Krankenversicherungen bietet Apps an, durch die Versicherte zum Nachweis gesunden Verhaltens mit der Versicherung kommunizieren und Daten über die Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen oder sportliche Aktivitäten übermitteln können… Die mit Versicherungstarifen dieser Art angebotenen Vorteile klingen besonders für junge und gesunde Menschen verlockend. Prognosen über die zukünftige gesundheitliche Entwicklung der Versicherten können aber – unabhängig davon, ob sie zutreffen oder nicht - dazu genutzt werden, profilgenaue Angebote zu unterbreiten, das Leistungsspektrum entsprechend anzupassen oder künftige Risikozuschläge zu berechnen.“

Die Revolution im PKV-Markt ging unbemerkt an BaFin, PKV-Verband und DAV vorbei

Der Autor dieser Zeilen, der sich nach immerhin mehr als 3 Jahrzehnten in der Branche wähnte, den PKV-Markt einigermaßen zu kennen, war verwundert. „Eine wachsende Zahl privater Krankenversicherungen“ bietet „Versicherungstarife“ an, bei denen man “künftige Risikozuschläge“ aufgebrummt bekommen kann, wenn man „Vorsorgeuntersuchungen oder sportliche Aktivitäten“ nicht wie vorgeschrieben wahrnimmt  – war diese Revolution im Krankenversicherungsmarkt unbemerkt an ihm vorbeigegangen? 

Ein erster Anruf beim PKV-Verband: Dort sind keine entsprechenden Tarife bekannt. Bei der BaFin? Auch nicht. Mails an die Aktuare des Krankenversicherers der Generali-Gruppe, also der Central, an Axa und andere: Fehlanzeige. Natürlich Fehlanzeige. Alles andere wäre mit dem deutschen Recht nicht vereinbar.

Die Private Krankenversicherung wird in Deutschland als Vollversicherung ausschließlich und als Zusatzversicherung überwiegend nach Art der Lebensversicherung betrieben[4]. Der Beitrag wird zu Vertragsbeginn nach den Faktoren Alter, Vorerkrankungen und Leistungsumfang kalkuliert. Bestimmte Verhaltensmerkmale wie Raucher/Nichtraucher oder Body-Maß-Index können allenfalls im Rahmen der Risikoprüfung vor Vertragsschluss berücksichtigt werden. Die Versicherungsverträge werden dann unbefristet auf Lebenszeit abgeschlossen, der Versicherer hat kein ordentliches Kündigungsrecht, der Leistungsumfang ist unbefristet garantiert und bei gleichbleibendem Leistungsumfang ist ein späterer Beitragszuschlag wegen Erkrankungen oder Verhaltensänderungen nicht zulässig.

Hat sich also jemand an der BaFin vorbei auf den Markt gewagt und illegale PKV-Tarife angeboten? Eine Anfrage bei Frau Voßhoff müsste Licht ins Dunkel bringen. Und so schrieb der Autor dieses Beitrages in seiner Funktion als Vorsitzender des Ausschusses Krankenversicherung der Deutschen Aktuarvereinigung am 24. Juli 2015 an die Bundesbeauftragte für den Datenschutz:

„…Uns ist bisher kein Privater Krankenversicherer bekannt, der einen Tarif anbietet, bei dem über „wearable technology“ gesammelte und an den Versicherer übermittelte Daten genutzt werden, um Beitragsvorteile zu gewähren. Dies wäre nach unserer bisherigen Einschätzung nicht mit den anerkannten versicherungsmathematischen Methoden vereinbar, die für die nach Art der Lebensversicherung betriebene Krankenversicherung nach § 12 Abs. 1 Versicherungsaufsichtsgesetz Grundlage der Beitragskalkulation sind…“ Da die Pressemitteilung von tatsächlich existierenden PKV-Tarifen sprach, schloss der Brief mit einer Bitte: „Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns die betreffenden Versicherer nennen könnten. Wir werden dann mit dem verantwortlichen Aktuar des jeweiligen Unternehmens in Kontakt treten und ihn bitten, uns die Grundlagen seiner Kalkulation zu erläutern und die Nachhaltigkeit zu begründen.“

Eine Bundesbehörde mit hellseherischen Fähigkeiten

Am 12. November kam die Antwort. „Grundlage der Presseerklärung der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) vom 16. Juli 2015 waren die zahlreichen Berichterstattungen in der ‚WELT‘, der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘, dem ‚Handelsblatt‘ oder ‚heise-online‘ über die App, die das Versicherungsunternehmen Generali anbietet. Ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Generali Deutschland Holding AG, Herrn Giovanni Liverani, vom 28. Juli 2015 war in der Technology Review der Heise Group vom 27. August 2015 nachzulesen... Detaillierte Auskünfte sollte Ihnen die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erteilen können. Die Kontaktdaten lauten…“

Oho! Eine Bundesbehörde (seit 1.1. sogar Oberste Bundesbehörde) warnt vor vermeintlichen Produktentwicklungen in der  PKV - nicht aufgrund eigener Erkenntnisse, die sie durch Anhörung der Beteiligten oder etwa durch tatsächliche Beschwerdefälle erlangt hat, sondern sie macht sich ihr Bild allein aufgrund von Behauptungen in Presseberichten. Schauen wir uns den letztgenannten, das Interview mit Herrn Liverani vom 28. Juli, an. Zunächst einmal fällt auf, dass das Interview am 28. Juli, also zwölf Tage nach der Pressemitteilung der Datenschutzbeauftragten, geführt und am 27. August, sechs Wochen nach der Pressemitteilung, veröffentlicht wurde. Welch hellseherische Leistung der Pressestelle der BfDI, ein Interview derart zu antizipieren! Dummerweise ist in dem besagten Interview von Krankenversicherung keine Rede, nur von Kfz-Versicherung. Immerhin nähert sich Liverani dem Thema Gesundheit: „Wir motivieren Kunden, ein gesünderes Leben zu führen…“.

Und damit sind wir beim Ursprung der ganzen verfahrenen Diskussion. Am 18. November 2014 hatte die Generali-Gruppe, Triest, eine Pressemeldung herausgegeben, in der sie mitteilte, dass sie mit dem südafrikanischen Finanzdienstleister Discovery eine europäische Partnerschaft zur Markteinführung von dessen hochmodernen Vitality-Produkten eingegangen sei.[5] Diese Produkte basierten auf drei Prinzipien: Erstens solle gesundheitsbewusstes Verhalten mit verschiedenen Benefits belohnt werden, die ein breites Partnernetzwerk bereitstelle. Zweitens wolle man die Kundenbeziehung intensiver gestalten, indem man die Kunden mittels maßgeschneiderter Programme und häufiger Interaktion motiviere, den Lebensstil und das Wohlbefinden zu verbessern. Drittens wolle man eine neue und bahnbrechende Verbindung zwischen Versicherer und Kunde schaffen. Die Produkteinführung solle sich zunächst auf Deutschland, Frankreich und Österreich beschränken.

In welchen Sparten die Vitality-Produkte zum Einsatz kämen, davon war in der Pressemitteilung nichts zu lesen. Die Tatsache, dass sich die Markteinführung nicht nur auf Deutschland beschränkt, hätte aber jedem klar machen können, dass die private Vollversicherung gerade nicht im Fokus steht.

Eine Fehlinterpretation löst eine Lawine aus

Drei Tage später meldete die Süddeutsche Zeitung „Generali erfindet den elektronischen Patienten“ mit der Dachzeile „Neues Krankenversicherungsmodell“[6]: „Verbraucher, die sich für eine Lebens- oder Krankenversicherung nach dem neuen Modell entscheiden, müssen Generali regelmäßig Daten zu ihrem Lebensstil übermitteln. Das funktioniert mithilfe einer App, die Vorsorgetermine dokumentiert, Schritte zählt oder sportliche Aktivitäten misst…“. Weiter hieß es „Nicht nur Generali, auch Allianz, Axa und andere Versicherer arbeiten an solchen Projekten…“.

Damit war der Geist aus der Flasche und er konnte bis heute nicht gebändigt werden. Während die Medien in Frankreich und Österreich weithin gelassen blieben, gab es in Deutschland hunderte von empörten Berichten über die angeblichen Absichten der Privaten Krankenversicherer mit Titeln wie „Datenschützer warnen vor Generali-App: ‚hochgefährlich‘“[7] oder „Generali in der Kritik“[8]. Die Fraktion DIE LINKE stellte eine 37 Fragen umfassende „Kleine Anfrage“ über „Datensammlungen über Versicherte in der privaten Krankenversicherung“ an die Bundesregierung, in der sie vor gravierenden Auswirkungen auf PKV-Versicherte warnte[9].

Nach der schon erwähnten Pressemittteilung der BfDI nahm die öffentliche Kritik an den vermeintlichen Praktiken in der PKV weiter zu. Einige Schlagzeilen: „Fitness-Apps in der Kritik“[10], „Willkommen im Gesundheits-Totalitarismus“[11], „Solidarität war gestern“[12], „Meine Pulsfrequenz gehört mir“[13].

Das Interessante daran: Niemand, der an dem Empörungs-Ritual teilnahm, kannte einen konkreten PKV-Tarif, niemand kannte auch nur einen Privatversicherten, der den Weg in den „Gesundheits-Totalitarismus“ gegangen wäre. Die Generali bemühte sich, die Diskussion zu versachlichen, und erklärte, die Krankenversicherung stehe derzeit gar nicht im Fokus. „Wir werden das Konzept beispielsweise in der Risikolebensversicherung anbieten“, erläuterte ihr Deutschland-Chef Liverani in einem Gespräch mit Herbert Frommes Versicherungsmonitor[14]. Dem PKV-Bashing tat das keinen Abbruch. 

Neben der unkritischen Übernahme von Falschmeldungen und Vorurteilen gegenüber der PKV überrascht dabei vor allem, dass die vielfältigen Aktivitäten der gesetzlichen Kassen im Bereich Big Data geradezu bagatellisiert  wurden. Während Frau Voßhoff mehrfach verlautbaren ließ, „die Mitglieder gesetzlicher Kassen sind durch Gesetz vor der unbedachten Preisgabe sensibler Daten und den damit verbundenen unabsehbaren Folgen geschützt“[15], haben z. B. die DAK mit der „Fitcheck-App“ oder die BarmerGEK mit ihrem „Fit2Go“-Programm die Bereitschaft zur digitalen Übertragung von Gesundheitsdaten mit Bonus-Programmen nach § 65a SGB V kombiniert. Andere Kassen ziehen nach. Die AOK plus will in der zweiten Jahreshälfte mit einen App starten, die „den Einsatz von Aktivitätstrackern“ belohnt[16].    

Gesundheitsbewusstes Verhalten: Bonifikation ja, Tarifierung nein

Im Wettbewerb um junge, gesundheitsbewusste Kunden überbieten sich die Kassen gegenseitig. Das muss nicht immer so plump sein wie bei der AOK Nordost, die alle zwei Jahre den Kauf der jeweils neuesten Apple Watch mit 50 Euro subventioniert[17]. Die TK z. B. bietet unterschiedliche App-basierte Coaching-Programme wie den Walking-Coach, den Nichtraucher-Coach, den Antistress-Coach oder den Fitness-Coach[18] an und überlegt derzeit, ob sie die Coaching-Programme  mit individuellen Zielen koppelt, für deren Erreichung ein Bonus gezahlt wird.

Auch für die PKV wäre es vorstellbar, im Rahmen des Gesundheitsmanagements Programme um digitale Anwendungen zu erweitern. Teilnehmer können so ihr Verhalten und die Ziele des Programms besser verfolgen. Der Versicherer benötigt die Daten daraus allenfalls anonym und gebündelt von allen Teilnehmern, um den Nutzen des Angebots zu überprüfen.  Denkbar wäre auch, die jährlich neu festzulegende Beitragsrückerstattung an leistungsfrei gebliebene Versicherte statt an dem alten, sozusagen analogen Merkmal „keine Rechnungen eingereicht“, an digitale Nachweise für gesundheitsbewusstes Verhalten zu knüpfen. Das wäre eine Bonifikation wie in der GKV - allerdings, anders als dort, nur bei neu eingeführten Tarifen mit entsprechender Regelung in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen anwendbar. Denn in der privaten Versicherungswirtschaft gilt: pacta sunt servanda.

Also: eine fallbezogene Bonifikation für gesundheitsbewusstes Verhalten ist in der GKV wie in der PKV üblich und auch mittels digitaler Nachweise vorstellbar. Eine verhaltensorientierte Tarifierung in der privaten Vollversicherung mit Beitragserhöhung bei mangelnder Compliance ist jedoch nicht zulässig, nicht existent und nicht geplant. Die öffentliche Diskussion dreht sich um ein nicht existierendes Phänomen. Es herrscht der Geist der spekulativen Philosophie.          

Doch selbst die altehrwürdige „Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft“ des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft e.V., deren Artikel stets qualitätsgesichert sein sollten, fiel angesichts der medialen Übermacht auf den Fake herein. In ihrer Ausgabe von Dezember 2015 wird in einem Artikel über die „Fragmentierung der Kollektive in der Privatversicherung – juristische Implikationen“ unter der Überschrift „Berücksichtigung laufender Gesundheitsdaten in der Krankenversicherung“ berichtet, dass die Generali in der Krankenversicherung angekündigt habe, Tarife auf den Markt zu bringen, bei denen „an Prämienrabatte gedacht“ werde für gesundheitsbewusstes Verhalten[19]. Auch diese Zeitschrift führt keine Originalquelle auf, sondern einen Artikel im „Versicherungsjournal“.

Ab sofort kann man also auch eine wissenschaftliche Zeitschrift als Beleg dafür heranziehen, dass es etwas gibt, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt. So entsteht der perfekte Fake. Hätte die NASA die Mondlandung von 1969 nur erfunden, grandioser hätte sie die Illusion nicht hinbekommen.  

 

           

 

 

 



[1] „Derzeit nicht erreichbar“, faz.net vom 17.12.2013

[2] „Voßhoff wird neue Datenschutzbeauftragte“, rbb-online vom 17.12.2013

[3] „Die Datenschutzbeauftragte ist ein Desaster“, faz.net vom 18.11.2014

[4] Zusatztarife nach Art der Schadenversicherung können bei dieser Betrachtung außen vor bleiben; sie spielen in der gesundheitspolitischen Systemdiskussion keine Rolle, da sie sowohl von privaten Versicherern als auch von gesetzlichen Kassen angeboten werden können; allenfalls in diesem Randbereich könnten aber die rechtlichen Möglichkeiten für eine verhaltensorientierte Tarifierung vorhanden sein.   

[5] „Generali, European partnership with Discovery for the launch of the cutting-edge Vitality products”, Press Release 18/11/2014

[6] „Generali erfindet den elektronischen Patienten“, sueddeutsche.de vom 21.11.2014, 11:30

[7] Neue Osnabrücker Zeitung, 26.11.2014

[8] Procontra-online, 27.11.2014

[9] Drucksache 18/3633

[10] General-Anzeiger, 17.07.2015

[11] Netzwelt.de, 22.07.2015

[12] Berliner Zeitung, 24.07.2015

[13] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.08.2015

[14] Versicherungsmonitor Premium, 19. August 2015

[15] So u. a. in der Pressemitteilung vom 16.07.2015

[16] „Fürs Joggen im Park gibt’s künftig Geld zurück“, Leipziger Volkszeitung, 03.02.2016

[17] www.aok.de/nordost/leistungen-service/aok-gesundheitskonto-248715.php

[18] www.tk.de/tk/medizin-und-gesundheit/24774

[19] ZVersWiss Band 104, Heft 5, Seite 493